Oberleutnant Handl, Eisstadt

Marmolada

„Ich danke in erster Linie meinem Beruf. Die Tatsache, dass ich ein Ingenieur bin, rettete mir und meiner gesamten Abteilung damals, in diesen entsetzlichen Tagen, das Leben. Mein Beruf ermöglichte mir zudem ein Werk zu schaffen, welches noch lange in den Kriegschroniken bleiben würde. Gestatten Sie mir die Unbescheidenheit. Ende Mai 1916 war ich längs des Gletschers unterwegs in Richtung Forcella Vu (Vesura Scharte). Wir hatten schon fast unsere Geschützstellung erreicht, als unsere Umrisse von den feindlichen Truppen entdeckt wurden und diese unbändig mit ihren Maschinengewehren auf uns schossen. Ich entfernte mich also vom Laufgraben und gelangte bis zum Rande einer Gletscherspalte. Ich seilte mich mindestens 15 Meter hinab auf eine Brücke aus Eis. Über mir, hoch oben am Himmel, leuchteten die Sterne. Ich überlegte, dass wir durch das Bohren eines Tunnels durch das dicke Eis, von hier aus die etwa 150 Meter entfernte Forcella Vu erreichen und somit die dortigen Stellungen besser versorgen und dessen Effizienz steigern könnten. Also begannen meine Männer und ich ein Netz aus verschiedenen Tunnels zu bauen, welches eine Länge von 10 Kilometern und eine maximale Tiefe von 50 Metern unter dem Eis der Marmolada erreichte. Wir nannten unser Werk „die Eisstadt“. Soldaten und Überbringer konnten nun vom Eingang am Gran Poz hinauf bis zum Posten am Kamm gelangen und das, ohne die Gefahr von einer Lawine erfasst oder vom Feind gesehen zu werden, welcher an der Forcella Serauta stationiert war. Ich ließ verschiedene Kavernen ins Eis graben und errichtete dort Baracken, Büros, Latrinen und Materialdepots, wie in einer stattlichen Siedlung. Von dieser Stadt ist jedoch nichts geblieben. Ein kurzlebiges Werk, wie so mancher Kunstkritiker es nennen würde: Eis ist eine Kreatur in ständiger Bewegung und bereits wenige Jahre nach Kriegsende waren die Eingänge eingestürzt und die Räumlichkeiten im Inneren vernichtet. Doch, wie die Felsen bei Ebbe, kommen die Beweise für die Existenz der „Stadt im Eis“ jährlich zum Vorschein. Während der Gletscherschmelze ragen aus der weißen Oberfläche zerstörte Baracken, verrostete Munition, Öfen und Schornsteine heraus.“

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